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ASPHALT. Ein Roadtrip mit Autofahrer*innen
Dieser Stau macht Spaß. Kaum etwas ist hassenwerter als das Warten im Verkehrsstau. Außer in der theatralen Installation "Asphalt" der Bürgerbühne: Dieser Roadtrip erzählt so unterhaltsam wie nachdenklich von den emotionalen Beziehungen Dresdner Fahrer und Fahrerinnen zu ihren Autos. Nebenbei regt das Open-Air-Action-Theater zum Nachdenken über die Verkehrswende an. (Dresdner Morgenpost, 19.10.2021) Nicht Autokino, sondern sozusagen Autotheater. Der Lautsprecher gehört doch aber nicht zur Ausstattung? Kein Bluetooth-Speaker, wie sich herausstellt, sondern zum Anstecken draußen an einen jener 18 weiteren Wagen, die nun einen zweiten Kreis bilden, hupend, fluchend, genervt, wie es sich im Stau gehört. Denn von diesem sich weltweit bildenden Mega-Stau erzählt die Zentralgeschichte, vorgetragen von einem Podium im Mittelpunkt der beiden Autokreise. Sie beginnt scheinbar harmlos in einer Zeit, "als unsere Autos immer klüger wurden", ihr Tempo drosselten und schließlich stehen blieben, um zu grübeln. Aber die Insassen konnten nicht aussteigen, Mensch und Auto waren längst eine Symbiose miteinander eingegangen und voneinander abhängig. Wie es dazu kam, erzählen die Szenen und Geschichten der 19 Bürgerbühnenspieler im Außenkreis, die nervös jeweils ein paar Stationen weiterrücken. Etwa ein Drittel von ihnen bekommt also der Besucher zufällig mit. Ein durstiges Radler-Opfer im sportlichen Kampfanzug springt außerdem in den Lücken herum. Es sei kein Stück für oder gegen das Auto, betont Bürgerbühnenleiter Tobias Rausch ungeachtet der eindeutig mindestens mahnenden und skeptischen Tendenz. Mit dieser genialen Idee der konzentrischen Auto-Spielkreise erfüllt er sich einen langgehegten Wunsch. Der kostet das Staatsschauspiel freilich auch einiges an technischem Aufwand, auch wenn Autohäuser sponsorten. Uns allen den Spiegel vorzuhalten, die mit dem Auto verbundenen Emotionen, Leidenschaften, Absurditäten und Perversionen vorzuführen, rechtfertigt aber den Einsatz. Von "Roadtrip", wie angekündigt, kann indessen kaum die Rede sein. Man kommt, wie immer häufiger draußen auf den Roads der Fall, ja nicht voran. Aber der Begriff des Weges spielt in den Texten häufig eine Rolle, ebenso das Trendwort "Disruption". Denn wir stehen am Scheideweg, vor radikalen Veränderungen auch unserer selbst und unserer Mobilitätsgewohnheiten durch unsere selbstgerufenen Geister - die längst uns beherrschen und nicht umgekehrt. [...] Acht Wochen nach dem einsetzenden Megastau scheint die Lösung zu nahen. Die Leute steigen doch aus, schlagen Zelte auf der Autobahn auf, werfen den Grill an, entdecken sich wieder. Die Vernunft scheint über den Technizismus zu siegen. Aber nein, plötzlich ruckelt die Schlange doch ein paar Meter weiter, alles stürzt wieder ans Steuer. Die Tankstellen sind doch nicht ausgetrocknet, im zynischen Finale wird vielmehr ein Bohrturmgerüst errichtet, das erneut Öl spuckt. Oder doch nur Wasser? Es wird jedenfalls immer heißer und "der Asphalt steigt". Man ziehe seinen eigenen Schluss: Es geht immer so weiter! Oder: Es bleibt alles ganz anders. (Michael Bartsch/cybersax, 15.10.2021) Mitten auf dem Dresdner Neumarkt stehen wir vor einem Radlader und starren in seine Schaufel. Darin sieht es aus wie in einem Sandkasten: Spielzeugautos, Verkehrsschilder, ein paar Äste. Maike von Harten, Diplom-Verkehrsingenieurin an der TU Dresden, ist vom Baufahrzeug herabgestiegen, wischt mit der Hand Pfade und Umgehungsstraßen in Sand, tauscht Kleinwagen gegen SUVs aus und führt vor, wie an sich logische Entscheidungen für einen flüssigen Verkehr nicht nur die Bodenversiegelung, sondern auch soziale Ungleichheiten und Reboundeffekte befördern. Von Hartens komprimiertes Wissenstheater mit Objekten ist nur ein kleines Theaterstück innerhalb eines größeren: "Asphalt" heißt die nachgeholte Produktion des Bürger:Bühnen-Leiters Tobias Rausch am Staatsschauspiel Dresden, mit der zum Spielzeitbeginn eine sogenannge disruptive Innovation im Zentrum steht. Demnach war der ursprünglich zur Staubvermeidung erdachte Teer der neue Stoff, der die Ausrichtung ganzer Gesellschaften am Auto einleitete. Und auch wenn wir jetzt vor neuen Disruptionen wie künstlicher Intelligenz stehen, kann man vom Asphalt schon mal lernen, dass sie neben Lösungen auch zuverlässig neue Probleme schaffen werden. Tobias Rausch, der sich als Regisseur schon länger mit der Frage beschäftigt, wie sich das komplexe Zusammenspiel von Technik und Natur auf dem Theater zeigen lässt, hat zusammen mit Bühnenbildner Thomas Rump einen zweispurigen, kreisförmigen Stau auf dem autofreien Platz zwischen Frauenkirche und Verkehrsmuseum konzipiert. Genauer gesagt: in den nagelneuen, von lokalen Autohäusern geliehenen und geparkten Wagen im inneren Kreis nimmt das Publikum Platz, während der äußere Kreis aus Privat- und Gebrauchtfahrzeugen sich mit sehr viel Stop and wenig Go um den inneren herumbewegt. Die Autos (und ein Aggro-Fahrrad) auf der Außenspur steuern und bespielen Mitglieder der Bürger:Bühne [...] Die zwanzig Spieler*innen, die sich im Programmheft mit je einer Autoquartettkarte vorstellen, kommen aus Sachsen, Kanada, Kirgistan, Rumänien, Belarus, Ungarn und Tunesien: sie sind Rentner:innen, sind berufstätig oder gehen zur Schule. Und sie alle haben, wie das Publikum, ein Verhältnis zum Auto. Welches das ist, davon erzählen sie von Wagen zu Wagen, teils bei offenen Türen, teils mithilfe angedockter Mikrofonkabel, wenn der Stau mal wieder stockt. Klaus Lorenz zum Beispiel hat mal in der Herstellung gearbeitet und kann mithilfe zweier Plastikflaschen ganz genau die Produktionsschritte des Fahrzeugbaus erklären. Rahma Ben Fredj taucht als Mädchengesicht am Fenster des Kleinbusses neben auf, haucht Nebel auf die Scheibe und malt Kreise hinein, bevor sie die Geschichte einer jungen Frau an der nordafrikanischen Mittelmeerküste erzählt, für die der Führerschein ein Emanzipationstraum ist. Robin Baumgärtel lässt uns teilhaben an einer nächtlichen Autobahnfahrt von Nürnberg nach Leipzig, auf der er ziemlich raffiniert die Erkenntnisse aus seiner Arbeit als Ingenieur für Software wie Einparkhilfen mit seinen Tindererfahrungen verschneidet: Natürlich soll es sicher sein, aber der Totalverzicht auf Emotionen ist auch keine Lösung. Also müssen Töne und Lichteffekte Risiko simulieren. Trotz allem passieren Unfälle wie der, von dem stellvertretend Gina Calinoiu erzählt. Sachlich und mit einer feindosierten Spur Bitterkeit berichtet sie vom unverschuldeten Zusammenprall mit einem Geisterfahrer, anschließenden Therapien und dennoch unauflöslichem Trauma, von Arbeitsunfähigkeit, Panikattacken, Verlust von Lebensqualität und endlosen Prozessen. In der Bewältigung der "Kollateralschäden" des Verkehrswesens, kann man dieser Episode entnehmen, ist die Gesellschaft nicht annähernd auf dem Stand der Fahrzeugbedienungsunterhaltungsbranche. (Eva Behrendt/die tageszeitung, 21.09.2021) Von Individualverkehr und individuellen Beziehungen zum Auto handelt "Asphalt, ein Roadtrip mit Autofahrer*innen". In der Regie von Tobias Rausch werden emotionale Erzählungen mit einer raffinierten, logistisch aufwendigen Inszenierung zu einem höchst unterhaltsamen Spektakel gekoppelt. Die Zuschauer sitzen in einem von 18 zu einem kreisrunden Stau platzierten Autos. Rechts herum zockelt eine weitere Autokarawane: PKWs, Transporter, ein Fahrrad oder Bagger. Es wird geschrien, gepöbelt, gehupt - man ist als Zuschauer mittendrin im alltäglichen Stop-and-Go-Irrsinn. Was hinter den Fenstern der Autos vorbeizieht, sind jeweils kleine, phantasievoll dekorierte Theaterbühnen: Mal mit Krawatten behängt, mal von Grünpflanzen überwuchert oder voller Plastikbälle für den Strandurlaub. Aus jedem Motiv heraus wird eine private Geschichte erzählt. [...] Intime Vier-Augen-Erzählungen sind das, für die jeder Spieler, jede Spielerin ein Mikrofon an den Lautsprecher im Auto der Zuschauer anschließen muss. Die bekommen nur rund die Hälfte aller Geschichten mit. Der Zufall steuert, welches Spieler-Auto neben welchem Zuschauer-Auto stehenbleibt. Immer wieder wird auch - im totalen Stillstand - das Pflaster im Innenkreis zum ausgelassenen Spiel- und Tanzplatz. Bis der PS-Zirkus wieder anläuft. Zwei Motive ziehen sich durchs Stück. Das Wort "Disruption" fällt in jedem Text, markiert den Moment, in dem das Automobil das Leben änderte. Und alle haben Durst, bitten um Wasser: Das Thema des durch Industrialisierung menschengemachten Ressourcenmangels kulminiert im Bau eines Förderturms für Wasser. So wird das Nachdenken über die Zukunft der Verkehrspolitik aktiviert, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. (Heiko Nemitz/Dresdner Morgenpost, 19.10.2021) Damit das Erlebnis authentisch ist, sitzt auch das Publikum in Autos. Jeder Zuschauer und jede Zuschauerin darf es sich in einem der VWs oder Audis bequem machen, die in einem Kreis auf dem Neumarkt angeordnet sind. Auf einer kleinen Bühne in der Mitte steht der Erzähler, der Erfinder des Asphalts, Docteur "Gourdon". Tatsächlich wurde wohl der Schweizer Arzt und Erfinder mit diesem Beinamen getauft, dem französischen Wort für Teer, nachdem er 1902 die erste Straße asphaltierte. Er sollte damit auf Wunsch des Fürsten von Monaco den Staub bekämpfen, den die Autos auf den Straßen aufwirbelten und die Menschen ununterbrochen einatmeten. Doctor Gourdon, auf einen Gehstock gestützt, erzählt seiner Frau Trinchen das Märchen vom wochenlangen Stau: wie die Menschen ungeduldig werden, wie sie verzweifeln, fast verdursten, plötzlich alle aussteigen und das Leben neu entdecken, ihre Autos vergessen und nach Wasser buddeln. Währrenddessen umrunden die Darstellerinnen und Darsteller das Publikum in ihren Fahrzeugen. Nur wenige Meter kommen sie voran, dann stock der Verkehr wieder, sie verkabeln sich mit den Publikums-Wagen und erzählen von ihren Erfahrungen. Reisen mit Mitfahrgelegenheiten, aus denen Ehen entstanden. Eine alleinerziehende Mutter über die Aggressionen der Männer im Straßenverkehr. Ein älterer Herr über die erotische Beziehung zwischen Fahrer und Gefährt. Der Fahrradfahrer berichtet von seinem brutalen Zusammenstoß mit einem Rechtsabbieger. Wichtige Momente oder grundlegende Veränderungen im Leben, die irgendwie mit dem Blechkasten verknüpft sind. Die Bürgerbühne wagt ein Stück, das Autos nicht verteufelt. Vielmehr fragt es, warum sich so wengie davon trennen wollen. Wahrscheinlich kann das jedem ein Lächeln abringen, der sich an eigene Erfahrungen im Straßenverkehr erinnert fühlt. Sei er oder sie nun Auto-Fanatiker, Porsche-Fan oder radikaler Radler. (Hannah Küppers/Sächsische Zeitung, 22.09.2021) Vorne in der Baggerschaufel eine Vorlesung zum Autoverkehr. Eine Frau erzählt von einer Traumatisierung durch einen Autounfall (sie markiert klar: Es ist eine wahre, aber nicht ihre Geschichte). Sie ist grandios, andere sind bemüht. Alles ist interessant. Aus einem der Cafés am Neumarkt läuft ständig Musik, die nichts mit uns zu tun hat, die Game of Thrones-Titelmelodie. Aber die Störung gehört durchaus dazu. Wie die Bürger und Touristinnen, die von draußen am Zaun reingucken und auch kommentieren. Es wird dunkel und kälter, auch links in Fahrtrichtung im Innern des Kreises wird performt, eher parazirzensisch. (Ekkehard Knörer/cargo-film.de, 20.10.2021) |