Chaosmos

Nur knapp 500 interessierte Menschen werden das 90minütige Stück hier erleben können, etwa die gleiche Anzahl später jeweils in Halle und Bremen. Und für diese lohnte es sich in jeder Hinsicht, die Oper bietet eine interessante Handlung, viel Aktion, künstlerisch hochstehende und gedankenanstoßende Videos und ungewöhnliche Musik. Und vielschichtig und komplex war es allemal, unmöglich, alle Aktionen, Bilder, Texte in ihrer Gesamtheit mitzubekommen. Die Handlungs- und Themenstränge wechseln sich teils ab, teils überlagern sie sich, laufen parallel oder zeigen Gegensätze auf.
(Fritz Gerwinn/Deianira - Das Kulturportal, 16.01.2020)



Wenn vielleicht auch technische Kleinigkeiten nachgebessert werden könnten, es waren 90 spannende Minuten einer Oper der anderen Art, einer Oper, die eben keine ist, eben NOpera! Eine Oper, die vielleicht auch zum Nachdenken anregt, daß es nicht immer gut ist, Dinge und Menschen nur aus dem einen, gewohnten Blickwinkel zu sehen, sondern auch Hintergründe zu hinterfragen, warum soll es unbedingt so sein, kann es nicht auch sein, daß die eigene Denke zu klein ist? Die Natur ist nicht binär, sie ist divers, die eigene starre Ordnung kann Zerstörung und damit Unglück bringen, andererseits sich aus dem Chaos etwas wunderbares neues entwickeln kann, wenn man es lässt. Diversität ist wunderbar.
(Rene Isaak Laube/Opernmagazin, 12.01.2020)



[...] das Publikum befindet sich während der Vorstellung auf der Bühne, nimmt also ganz nah am Geschehen teil. Dieses Mal ist ein von der Außenwelt abgeschnittenes voll digitalisiertes Logistikzentrum aufgebaut, das in den Händen von Joe (Rike Schuberty) und Jay (Annemie Twardawa) als Picker und Stower liegt. Sorgsam scannen und sortieren sie von drei Rutschen eingehende und mit einem Gabelstapler abzutransportierende Pakete. Alles hat seine reibungslose Ordnung. Für das aufwändige Bühnenbild und die dazu passenden Kostüme sorgte Eylien König.
Tja, doch dann geht alles schief, als sie neugierig geworden auf einem Karton das ihnen unbekannten Absenderland Dänemark lesen und ihn öffnen. Es schrillt, rote Alarmlichter gehen an. Nichts funktioniert mehr, Paketein- und ausgänge können nicht mehr richtig verarbeitet werden, das System stürzt zusammen. Picker und Stower sind total überfordert. Man sucht nach dem Zentralplan, findet ihn zuletzt. Joe und Jay verschwinden sofort in der Versenkung hin zum Ausgang, sich dabei fragend, ob es Dänemark wirklich gibt.
[..] die Handlung wird zwischendurch immer wieder unterbrochen, um die Thematik Ordnung und Chaos aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Mit kritischen Texten (gesprochen und zusätzlich an die Wand geworfen) unterlegt, werden mittels exzellenter Videos die binäre Nomenklatur des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, die wie mit dem Lineal gezogenen Landesgrenzen Afrikas zur Zeit des Kolonialismus und die logistisch perfekte Erfindung von Seecontainern während des Vietnamkriegs 1967 reflektiert. Damit wird der Frage nachgegangen, ob vordergründig vernünftige Methoden immer richtig sind oder genau das Gegenteil bewirken.
Dabei spielt das Orchester (einstudiert von Johannes Pell und Marc Sinan) sehr kultiviert aleatorische Musik, in diesem Fall nach den Vorgaben der Besucher. Sie haben nämlich die Abfolge der Kompositionen und improvisatorischen Freiräume ganz zu Anfang beim Einordnen ins Regal festgelegt. Genau so kamen die Noten auf die Pulte. Bestens harmonierte es mit den vier Gesangssolisten im Androidenoutfit Wendy Krikken (Sopran), Iris Marie Sojer (Mezzosopran), Adam Temple-Smith (Tenor) und Timothy Edlin (Bariton). Sie brillieren mit in allen Lagen sicheren und beweglichen Stimmen.
Das Regieteam um den Komponisten Marc Sinan, Tobias Rausch (Texte) und Konrad Kästner (Regie und Videos) bedient sich bei der Umsetzung allen aktuellen tontechnischen und visuellen Techniken. Perfekt werden sie eingesetzt. Beim Anschauen und Zuhören bleiben folglich keine Wünsche offen. Dass diese Inszenierung noch nicht ganz fertig zu sein scheint, wird gerade auf der Handlungsebene deutlich. Denn ein wenig zu unprofessionell agieren noch hin und wieder die beiden Darstellerinnen. Auch wirkt die Szenenabfolge nicht immer ganz schlüssig.
Trotzdem ist der lang anhaltende Schlussapplaus des Premierenpublikums aufgrund der eindrucksvollen Präsentation der Begriffe Ordnung und Chaos, die zum Nachdenken anregen, berechtigt.
(Hartmut Sassenhausen/Westdeutsche Zeitung, 12.01.2020)



Es geht um Ordnung und Unordnung, was an sich ja nicht uninteressant ist. Inhaltlich werden per Text und Videosequenzen drei Themenkomplexe angerissen, wobei jedem Ordnungsprinzip seine Schattenseiten entgegengestellt werden [...] Das ist durchaus spannend, wobei Dramaturg David Greiner in seiner kurzen Einführung vor der Premiere die wesentlichen Aspekte derart eloquent auf den Punkt bringt, dass man während der eher zähen Aufführung schnell auf den Gedanken kommt: Ein bebilderter Vortrag wäre die lehrreichere und unterhaltsamere Form für solche Abhandlungen gewesen.
Parallel dazu gibt es eine Spielsituation, die so banal ist, dass man schnell darüber hinweggehen kann [...] Textlich wie darstellerisch bewegt sich das auf Laientheater-Niveau. Das Publikum sitzt auf der Bühne des Opernhauses, wo für rund 150 Zuschauer Tribünen aufgebaut sind. Zwei Förderbänder werfen regelmäßig Pakete auf die Spielfläche, und die anfängliche Ordnung weicht mehr und mehr einer Unordnung. Das ist, vorsichtig formuliert, vorhersehbar.
(Stefan Schmöe/Wuppertaler Rundschau, 15.01.2020)



Die Musik hat sich mit der Handlung und auch mit den Videos immer wieder interessant verzahnt. Aber sie tritt nicht in den Vordergrund. Sie ist ein wenig wie Filmmusik. Sie schafft Stimmungen, sie schafft Räume. [...]
Man befindet sich in einem Logistikzentrum, [...] da es gibt zwei Lageristinnen, die auch Zwillinge sind, und die scannen mit ihren Scannern die Pakete ab, und dann heißt es pick-pack, es piepst die ganze Zeit. Das ist eigentlich eine selbstgezimmerte Ordnung. [...] Und es kommt, was kommen musste, das ganze System gerät irgendwann durcheinander. Dann kommt das Video zum Einsatz, und man sieht einen Wissenschaftler [...] Carl von Linné, der die Natur in dieses binäre System in Männlein und Weiblein geordnet hat. Und auch das kommt durcheinander, indem Linné durch seinen Assistenten vergewaltigt wird. Das ist so das erste Beispiel, dass so eine Ordnung auseinanderbrechen kann. [...] Marc Sinan ist ein politischer Komponist, der sich an Grenzen heranwagt und genau weiß, wo die aktuellen Themen liegen. In diesem Fall war es als zweite Kritik an der menschlichen Ordnung der Kolonialismus; es gab ja 1884/85 die sogenannte Kongo-Konferenz in Berlin und da hat man sehr willkürlich versucht, Afrika aufzuteilen. Bismarck nimmt ein Lineal und zieht einen langen Strich durch Siedlungsgebiete, in denen ja Menschen schon wohnen und ihre eigenen Ordnungen haben. Also, die Europäer pflanzen den Afrikanern ihre Ordnung ein. Und als letztes, da wurde es dann tatsächlich auch gegenwartspolitisch, ging es um das System der Container. Es gab so subtile Verbindungen in dieser Handlung. Es wird ein riesiger Containerhafen gezeigt, und im Vietnam-Krieg ist dieses System überhaupt erfunden worden, dass man Sachen packt, ordnet und sortiert, aber ein völlig inhumanes System, in dem Menschen zu Tode kommen - das war so ein politisches Vorpreschen von Marc Sinan.
(Deutschlandfunk, 14.01.2020)



Beim Betreten der Bühne bekommt jeder von einem als Android agierenden Statisten eine Mappe mit Notenmaterial für einzelne Instrumentengruppen in die Hand gedrückt, die in eines von vier Regalen in der Mitte der Bühne einsortiert werden muss. Wichtig ist dabei nur, dass die Mappen für die einzelnen Instrumentengruppen auch wirklich in der Abteilung für die jeweilige Instrumentengruppe landen. Die Reihenfolge, spielt dabei keine Rolle, was den Ablauf an jedem Abend neu festlegen soll. Da fragt man sich nur, wieso es für jede Instrumentengruppe mehrere Regale gibt, die untereinander nicht austauschbar sind. Völlig frei ist der Ablauf dann wohl doch nicht. [...] Während die Geschichte in irgendeiner Form noch greifbar oder nachvollziehbar ist, ist es das von Marc Sinan stammende musikalische Material nicht. Wie soll es das aber auch, wenn es an jedem Abend neu zusammengesetzt wird? Das gibt der Musik den Charakter von absoluter Beliebigkeit, die völlig willkürlich wirkt. Da kann auch die musikalisch ansprechende Passage von Johann Sebastian Bach am Ende nichts retten. Natürlich ist es eine Kunst, eine Partitur so zu konzipieren, dass man sie zerlegen und anders zusammensetzen kann. Aber den "klassischen" Opernanhänger erreicht man damit genauso wenig wie neue Besucherschichten, deren Musikgeschmack an Funk und Fernsehen orientiert ist.
(Thomas Molke, Online Musik Magazin, 12.01.2020)