DUNKLE MATERIE


Es gibt zwar 4000 Seiten Interviews als Grundlage - Rauschs Arbeitsprozess allerdings verformt sie in einem künstlerischen Wurmloch: Bei ihm werden Transkripte zu Diskussionen zu Improvisationen zu einem Stücktext. Jeder Schritt ist eine Transformation der Grundlage, eine weitere Spiegelung hin zum Kern der Geschichte. [...] Und also torkeln die fünf tapferen, so nennen sie sich, Aeronauten in ihren Raumanzügen mit riesigen Helmen vor einer Milchstraße aus LEDs, mit ihrem weißen Raumschiff, das vorne eine Kabine hat, hinten eine große Satellitenschüssel, und bei Bedarf einfach gedreht werden kann. Es gibt feindliche Übernahmen durch Pick-up-Artists, majestätische Gasgalaxien aus Oxytocin, Geschichten von der Liebe zu Männern, Frauen, zu beidem, gleichzeitig oder hintereinander, von der Liebe zu Kränen, und der Liebe zu Minderjährigen.
Liebe, so will es die umspannende Metapher dieser Inszenierung, ist wie Dunkle Materie: überall um uns herum, nicht greifbar, und ob es sie gibt, darüber streiten sich selbst die klügsten Menschen. Deshalb ist Rauschs Herangehensweise konsequent: Er biegt nicht nur seine Recherchegrundlage wie die Dunkle Materie den Raum, er schickt seine Schauspieler auch auf eine Forschungsmission mitten hinein. Die Inszenierung konkretisiert nichts. Die Formen der Liebe werden beobachtet, wie man auch Dunkle Materie beobachtet: Man kann sie nicht direkt sehen, man kann nur von ihrer Wirkung darauf schließen, dass es eine Ursache geben muss.
Trash und Tragik fügen sich in Rauschs Forschungsprojekt ganz großartig zusammen. Er lässt die Facetten der Liebe - im Guten wie im Schlechten - im Weltraum schillern. Da werden Herzen gebrochen und vom Comic Relief gleich wieder gekittet, nur um wieder gebrochen zu werden. Und das alles, ohne jemals zu werten, ohne zu erklären. Einfach nur als staunender Beobachter, der mitten in seinem selbst gebauten Metaphernsturm der Liebe steht, und vorsichtig nach den Teilchen tastet, die da so hell strahlen.
(Jan Fischer/nachtkritik.de, 29.05.15)

Das Bemerkenswerte an der Inszenierung: Nie wird es unangenehm, nie peinlich. [...] Tobias Rausch will mit seinem Stück die Liebe nicht erklären, er erzählt Geschichten nicht aus, bietet allenfalls ein Ende an. [...] Tobias Rausch gelingt es, so zu erzählen, dass nichts beschönigt, nichts verurteilt wird. Dazu gibt's Momente zum Kichern [...] Das »Weltraumabenteuer über die Liebe« hat nichts Abgehobenes, beweist Bodenhaftung - und intergalaktischen Humor.
(Westfalen Blatt, 30.05.15)

Tobias Rausch liefert mit seinem Recherchestück »Dunkle Materie« eine überzeugende Premiere auf der TAM-Bühne ab. Die verdankt er auch seinem großartig aufspielenden Darstellerteam, das sich mal klamaukig, mal ernst, aber immer feinfühlig in die Liebesuntiefen stürzt. [...] Startpunkt: Ein statistisches Zucken auf den Bildschirmen, eine Störung bringt die Mission vom Kurs ab und in Berührung mit der "Dunklen Materie" - der abgründigen, der anderen Liebe. Diese fremde Masse bearbeiten die Schauspieler für die nächsten 90 Minuten hingebungsvoll und mit vollem Körpereinsatz. Als "ein riesiger, klebriger Hefeteig", beschreibt sie ein Astronaut. Aber die dunkle Liebe, von der Rauschs Stück erzählt, bleibt immer menschlich. Vielleicht ist das der größte Kunstgriff. [...] Die Liebe ist vor allem innen und Sache des Untiers namens "Ich". Und gerade das macht Rauschs Exkursion bei allem Wirrwarr spannend: Das sie in einen der letzten Bereiche des absolut Privaten führt und in Grauzonen. [...] Am ungemütlichsten wird es im All, als die Expedition sich dem Thema Missbrauch zuwendet - aus Täter- und aus Opfersicht. Rausch trifft hier klug die Entscheidung, die Erzählung des Täters auf mehrere Figuren zu verteilen. Ihm geht es nicht darum, dem Bösen ein Gesicht zu geben, sondern einem Menschen mit schrecklichen Bedürfnissen Facetten zuzugestehen. Und er schafft es, aus vielen Stimmen, Texten und Figuren - trotz der collagenhaften Arbeitsweise - ein stimmiges Ganzes zu formen. Ein genialer Kunstgriff und wohltuender Kontrapunkt ist dabei die klamaukig schlichte Rahmenhandlung der Weltraummission, die die zum Teil harten Inhalte und Themen aus den Interviewrecherchen wohltuend ausbalanciert und einfasst.
(Christine Panhorst/Neue Westfälische, 30.05.15)

Regisseur Tobias Rausch steigt humorvoll in das große Thema »Liebe« ein und sorgt bis zum Schluss für komische Momente: Mal läss er seine fünf Kosmonauten - Haarföne und Staubsauger im Anschlag - wie Soldaten posieren, mal schickt er sie, auf der Suche nach dem Kuschelhormon Oxytocin, schnüffelnd durch ein Gasplanetenfeld. Dynamische Szenen, die dem Stoff die Schwere nehmen, denn bald wird es ernst. Immer wieder brechen Erinnerungen herein; die so genannten Ego-Nauten gehen in sich und werden selbst zum Forschungsobjekt. Etwa die hübsche, blonde Isabell: Hals über Kopf verliebt sie sich in einen jungen Aussiedler. Den Hass seiner Mutter hält sie tapfer aus, kämpft gegen die Alkoholsucht des Geliebten und kann ihn doch nicht retten. Am Ende ist er tot. [...] Hart sind die authentischen Geschichten, wie auch Tabu-Themen um Kindesmissbrauch, Objektophilie und spätes Coming-Out. Mit seinem spielfreudigen Ensemble gelingt Tobias Rausch ein facettenreicher Rundumschlag als Wechselbad der Gefühle: Kommt die Liebe in grotesken Weltraumszenen spielerisch leicht daher, geht es in der Realität immer wieder um Verlust und Zerstörung. Ein berührendes, tiefsinniges Stück, wohltuend selbstironisch und unterhaltsam inszeniert - beeindruckend.
(Isabell Steinböck/WDR 5, 01.06.2015)