Felix Krull und seine Erben


»Felix Krull und seine Erben« nutzt Thomas Manns literarische Vorlage geschickt als Bühne für die recherchierten, »wahren« Hochstapler-Geschichten. Manchmal ist nicht eindeutig, wer Betrüger und wer Betrogener ist, oder ob es diese klare Rollenverteilung überhaupt immer geben kann. Zwar sind die Figuren meist bis ins Schrille überzeichnet, trotzdem kann man sich ihren Geschichten schwer entziehen.
(Jessica Schlage / NDR, 05.05.2012)

Miese Betrügerei, Berufung oder wahre Kunst? Der Autor und Regisseur Tobias Rausch spürt in seinem jüngsten Stück einem alten Phänomen nach, dass nicht erst seit Karl Theodor zu Guttenberg wieder aktuell ist: dem Bluff. In seinem Recherchetheater versucht Rausch, reale Geschichten mit Thomas Manns Hochstapler Felix Krull zu verbinden. Bei der Uraufführung im Kieler Schauspiel gab es freundlichen Applaus.
Es geht rauf und runter, kreuz und quer in dem wunderbar ausgeklügelten Setzkasten, den Ausstatter Michael Böhler auf die Bühne im Schauspielhaus gebaut hat. Über Rampen, Kletterstangen und Strickleitern in OP-Säle, Bügelzimmer und Bars, auf die Dachterrasse oder einfach aufs Klo. Jeder Raum eine neue Identität, Platz für Seelen- und Selbstdarstellungsräume. Und schließlich erzählt das Bühnenbild auch von einem der wesentlichen Bestandteile des Bluffs: Immer in Bewegung bleiben.
Die aus der Realität gesammelten Schicksale von Bluffern und Blendern sind spannend genug; und dass vom Roman kaum mehr als Spuren bleiben, stört kaum.
Jennifer Böhm als frecher biegsamer Felix Krull, Wolfgang Klockow anrührend in den transsexuellen Bekenntnissen von Bernd/Beate, Claudia Friebel und Isabel Baumert versiert als Rosza und Schimmelpreester und Marius Borghoff ganz großmauliger Poser, der die großen Dinger des Bestellbetrügers noch ein bisschen größer macht. Und Stimmung kommt auf, als Marko Gebbert und Ellen Dorn nach der Pause so kühn grotesk wie rasant durch die Heiratsschwindler-Episode preschen. Der Schweizer Schriftsteller, der 1995 mit seiner autobiografischen Schilderung einer jüdischen Kindheit in Majdanek einen Besteller landete, der später als Fälschung entlarvt wurde, ist in Gebberts zurückgenommenen Auftritt eindrucksvoll und hätte der Frage, ob Lüge Wahrheit werden kann, eine weitere Dimension hinzuzufügen.
(Ruth Bender/Kieler Nachrichten, 07.04.2012)

Seine frühen »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« hat Thomas Mann im Alter fortsetzen wollen, aber nicht mehr können. In gewisser Weise besorgt das jetzt das Berliner »lunatik kollektiv« [sic!] durch sein Theaterstück »Felix Krull und seine Erben«, uraufgeführt gemeinsam mit dem Kieler Schauspiel ensemble. Thomas [sic!] Rausch und seine Dramaturgin Annika Hartmann setzen außer Krull selbst auch die anderen Hauptpersonen aus dem Roman in wechselnden Rollen ein, also Schimmelpreester (Isabel Baumert), Oberstabsarzt Dr. Grässlich (Marius Borghoff), die Prostituierte Rosza (Claudia Friebel), Madame Houpflé (Ellen Dorn), Marquis de Venosta (Marko Gebbert) und Professor Kuckuck (Werner Klockow). Krulls Gewandtheit, von einer neuen Identität in die nächste zu schlüpfen, wird nun ins Allgemeine erweitert. Das ergibt ein wahres Kaleidoskop der Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Dazu hat Michael Böhler drei Geschosse mit je drei Teilen, einem Mini-Klo und einem menschlichen Terrarium als Unterbau so aufgeschnitten, dass sie simultan bespielt und eingesehen werden können. Leiter, Klettertau und schräge Rampe ermöglichen es den Darstellern, affenartig die Räume zu wechseln. Der Kniff des Ganzen besteht darin, originale Romanszenen, wie etwa Krulls Simulieren einer Epilepsie, nur anzuspielen und zu mischen mit typischen Einzelfällen von Hochstapelei. (...) Verdienter, ungeteilter Beifall für das Ensemble.
(Wolfgang Butzlaff/Schleswig Holsteinische Landeszeitung, 10.04.2012)

Die Romanfigur Felix Krull aus dem gleichnamigen Fragmentroman von Thomas Mann ist ein Hochstapler: Er reist unter falschem Namen und schlüpft in fremde Identitäten. Wer er wirklich ist, kann er niemals offen zeigen. Auch in unserem heutigen Alltag gibt es diese Hochstapler. Immer dann, wenn die Wahrnehmung der eigenen Identität nicht mit der Erscheinung in der realen Welt zusammen passt, muss nachgeholfen werden. Das Kieler Schauspielhaus hat in Zusammenarbeit mit Thomas Rausch vom Theater- und Performancekollektiv lunatiks produktion besonders kreative Verwandlungskünstler sowie deren Opfer in Deutschland, Österreich und der Schweiz interviewt. Bei den Gesprächen standen stets die Fragen »Was macht die Faszination aus, sich für jemand anderen auszugeben?« und »Wo stößt die Lüge nicht nur an strafrechtliche Folgen, sondern wird darüber hinaus in Bezug auf moralische Norm und Pietät fraglich?« im Vordergrund. Das Ergebnis ist ein emotional berührendes und die Abgründe der menschlichen Seele offenlegendes Theaterstück, das dem Zuschauer ausgewählte Erben von Felix Krull vorstellt.
Die Hauptfigur Felix Krull (Jennifer Böhm) fühlt sich zu etwas Höherem berufen. Deshalb versucht er stets, seinem Glück auf die Sprünge zu helfen. Im einem Pariser Hotel trifft Krull auf andere Figuren des Mann-Romans, zum Beispiel Professor Kuckuck (Werner Klockow) und den Oberstabsarzt Dr. Grässlich (Marius Borghoff): Er sitzt seinem Paten, dem Maler Schimmelpreester (Isabel Baumert) in verschiedenen Kostümen Modell, wird der romantische Freund der Prostituierten Rosza (Claudia Friebel), der Liebhaber von Madame Houpflé (Ellen Dorn) und setzt als Doppelgänger von Marquis de Venostra (Marco Gebbert), der lieber bei einer Frau verweilen möchte, dessen Reise fort.
Gespickt ist die Handlung mit Ausschnitten aus den von Tobias Rausch geführten Interviews. Die Beichten der einzelnen Befragten reichen von der Verheimlichung der Blindheit eines Kellners bis zum falschen Arzt, der nie ein Studium absolviert hat und werden jeweils von verschiedenen Bühnenfiguren zitiert.
Fazit: Eine rundum gelungene Produktion, die den Zuschauer zum Nachdenken über sein eigenes Ich, seine Wünsche und Sehnsüchte und seine eigene (Wunsch-)Identität anhält.
Das Bühnenbild, das zwar verschiedene Zimmer des Pariser Hotels zeigt, erinnert durch diverse Klettervorrichtungen, wie Leitern, Rampen und Seile, stark an einen Rattenkäfig. Unterstrichen wird diese Impression zusätzlich durch die am unteren Bühnenrand angebrachte, bespielbare Plexiglasbox, die mit Styroporkugeln, dem Käfigstreu, ausgelegt ist.
Die aus den Interviews extrahierten Erlebnisse, die im Originalton von unterschiedlichen Bühnenfiguren zitiert werden, sind ein schöner, dramatischer Kniff: Es entsteht eine akustische Kollage, die deutlich zeigt, dass jeder in die Rolle eines Anderen schlüpfen kann. Für eine Aufführung dieses Themas hätte es keine bessere Bühne als die eines Schauspielhauses geben können, denn genau an diesem Ort geschehen Verwandlungen und das Verschwimmen von Lüge und Wahrheit, von Realität und Illusion, jeden Abend.
(KielErLeben, 05.04.2012)