|
Fluchtpunkt Berlin
Aus ca. 50 Interviews, die ein aus Jugendlichen und Erwachsenen bestehendes Rechercheteam des Jungen DT mit Menschen führte, die ihre Heimat verloren oder verlassen haben, entwickelte Regisseur Tobias Rausch »Fluchtpunkt Berlin« ein (semi-)dokumentarisches Stück über Bewegung, Flucht und die (Nicht-)Greifbarkeit der Heimat(-losigkeit). (...) Selbstbewusst und mit großem Körpereinsatz spielen und erzählen die jungen Erwachsenen Flucht- und Lebensgeschichten unterschiedlicher Art in collageartigen Szenen. Auch wenn einige von ihnen etwas überladen wirken - beliebig wird es nicht. Tobias Rausch seziert die unfassbaren Situationen der Flüchtlinge, Migranten und Vertriebenen in kleine Segmente, lässt ihre Stimmen für sich sprechen und gibt dem Publikum die Möglichkeit, daraus eine eigene Realität zu kreieren. Der Text erreicht die Befreiung von den Darstellern, niemand spielt eine feste Rolle. Mit fein getakteten Übergängen wechselt der Regisseur zwischen Melancholie, Ernsthaftigkeit und Humor. (Theater der Zeit, 03/2013) Auf den Einstieg (...), folgt ein Theaterabend mit Methode und Konsequenz. Tobias Rausch lässt die Teilnehmer der von ihm geleiteten Projekte üblicherweise mit Sachrecherchen zu einem Thema, zumal in Interviews, ausloten, was er die Psychotopographie einer gesellschaftlichen Situation nennt. Auch Heimat und Flüchtlingselend sind für die Jugendlichen nicht zu komplex. Rauschs Ansatz geht schließlich, ein wichtiger Akzent, von den unterschiedlichen Spiegelungen einer Sache aus, die dann als Theatermaterial in Bewegung, Bilder und Sprache umgesetzt werden. Vorab Thesen sind dazu da, empirisch durchlöchert zu werden. Auf diese Weise entsteht eine Art szenischer Autopsie, die von einem Selbst-Sehen, Selbst-Denken lebt, das manche politischen Korrektheiten erspürt und durchbricht. (...) Zur Methode des Abends gehört das, was der britische Sozialtheoretiker Peter Burke als »raculer pour mieux sauter« bezeichnet - zurücktreten, um besser sehen zu können. Anstatt sich in die üblichen Positionskämpfe zu verstricken und korrekt »engagiert« zu sein, bedient Rausch sich einer anthropologisch-naturwissenschaftlichen Blicks, dem Migration als Normalzustand erscheint, fast erscheinen muss. (...) Das Resultat ist schönes, spritziges und kluges Bewegungstheater - und allemal eine gute Bank-Investition in Menschen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.2013) Es war ein Abend mit vielen berührenden Geschichten. Also Arman z.B., das ist ein Junge aus Afghanistan, dem war es gelungen, mit seiner Mutter nach Teheran zu fliehen. Von dort muss er dann weiter über Griechenland nach Italien. Italien ist das Land, das schon zwei Länder vor Deutschland ist. Das ist eine ziemlich abenteuerliche Geschichte, die uns da erzählt wird. Wie er es dann doch schafft, obwohl er noch ein paar Mal betrogen wird und aus dem Zug fliegt und dann quasi die Bahnstrecke von Nizza nach Berlin zu Fuß laufen muss. Er kommt dann trotzdem in Berlin an. Solche Geschichten sind das. Tobias Rausch und seine junge Truppe haben schon viel in den Abend hineingepackt. Es geht jetzt nicht nur darum, diese Einzelgeschichten zu erzählen, sondern es wird auch reflektiert, wie wir mit diesen Flüchtlingen umgehen, was die Medien daraus machen. Da ist manchmal viel gute Hoffnung, gute Meinung dabei, aber es ist insgesamt wirklich ein temporeicher, witziger Abend und eine sehr intelligente Auseinandersetzung mit dem Thema. (inforadio, 06.02.2013) Es handelt sich um eine Inszenierung des Jungen DT, auf der Bühne stehen 18 Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, viele von ihnen gehen noch zur Schule. Was sie an diesem Abend abliefern, ist schlichtweg beeindruckend. Untermalt mit Livemusik und vor Ort produzierten Hörspielgeräuschen wechseln die Schauspieler ihre Charaktere im Minutentakt - mal sind sie Mensch, mal sind sie Tier. Mit vollem Körpereinsatz und fast schon akrobatischen Einlagen toben sie durch das Bühnenbild, besser kann man die innere Getriebenheit der Flüchtlinge nicht darstellen. (...) Vertreibung, Flucht, Heimat(-losigkeit) - keine leichte Kost, möchte man meinen. Die wird allerdings mit so viel Sprachwitz dargeboten, dass man an vielen Stellen der Aufführung nicht anders kann, als laut loszulachen. Ein Lachen, das einem im nächsten Moment schon wieder im Halse stecken bleiben möchte, dringt die harte Botschaft des Gesagten doch meist erst mit einer kleinen Verzögerung bis ins Innerste vor. Dafür dann mit umso größerer Wucht. Alles in allem ein äußerst bemerkenswertes Stück, das man sich unbedingt ansehen sollte. (rbb-online, 10.01.2013) Szenen verschieben sich, was eben eines war, ist jetzt schon etwas ganz anderes. Gewissheiten werden hinterfragt und ad absurdum geführt, Weltbilder verwandeln sich in ihr Gegenteil, so manches ist nicht, was es scheint und zuweilen mehreres gleichzeitig. Aus dem Flüchtling, der sich erhängt hat, wird das Mädchen auf der Schaukel, zwei Jugendliche erzählen von schlesischen Trachten und kleiden sich gleichzeitig afrikanisch ein. Szenen werden abgebrochen, Geschichten auf unterschiedliche Weisen zu erzählen versucht, nichts ist sicher, die eine, allgemeingültige Interpretation gibt es nicht. Es wird viel gespielt an diesem Abend, probiert und verworfen, kaleidoskopisch aufgefächert und lustvoll unterspült. Was bleibt, ist ein ungemein anregender, vielschichtiger Diskurs über Heimat - als Ort, als Gefühl, als Mythos. Es ist ein Diskurs, der kein Ende hat, der nicht die eine große Antwort bietet, nur viele kleine, die sogleich wieder zu Fragen werden. Wer ist eigentlich das »Opfer«? Der »Flüchtling«, der gegen alle Widrigkeiten und unter Lebensgefahr sein Schicksal in die Hand nimmt - oder doch wir, die wir passiv da sitzen, uns nicht bewegen, alles mit uns geschehen lassen? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, aber vielleicht ist auch die Frage falsch. Dieser Abend bringt einiges in Bewegung - es könnte sich lohnen, diese Bewegung zuzulassen. (stagescreen, 10.01.2013) Die Inszenierung ist immer dann stark, wenn sie erklärt und durchaus auch komisch bebildert, was Schlepperbanden und Fluchtindustrie, Asylantsein im Heim, Betreuung durch Ämter, Aufenthaltsgenehmigung und Abschiebung, ganz konkret für die Betroffenen bedeuten. Bunt wird das Spiel schon allein dadurch, dass die Jugendlichen, allesamt in Trainingsoutfits, ständig die Rollen wechseln und gegen den mutmaßlichen Prototyp besetzt sind. Sie agieren stark körperbetont, angetrieben von einem Dreierteam, das stimmig live Musik und Geräusche macht. Am Ende wird die Ausgangs-Idee der Sesshaftigkeit in Gestalt des angestammten Sitzplatzes noch einmal aufgenommen. Und wir Zuschauer sind mitten in der Flüchtlingsbefragung und Hinterfragung, die sich in ihren Mitteln immer wieder hinterfragt, anhält, neu beginnt. (rbb, 10.01.2013) Man muss die Leistung der jungen Schauspieler bewundern. Das eindringliche Kreischen eines Mädchens, als es von seiner Adoptivfamilie von einem Bauernhof gezerrt wird, um in ein kleines Zimmer in der Stadt zu ziehen - wo doch die Tiere ihre einzigen Bezugspunkte sind. Der leere Blick eines Flüchtlings, der in einer Fernsehshow mit den Worten 'Komm, erzähl den Leuten, wie unmenschlich du behandelt wurdest' vorgeführt wird. Und schließlich der Moment, in dem sich die SchauspielerInnen selbst darüber streiten, wie schwer es ist Geschichten über 'Flucht' und 'Heimat' ohne Kitsch und Emotionalisierung wiederzugeben. Genau das ist dem Autor gelungen. Vielleicht, weil er das Thema rein aus Interesse, ohne eigene Fluchtgeschichte, angegangen ist. (taz, 09.01.2013) Am Ende zum Beispiel gibt es eine Szene, die von Amann, dem Flüchtling aus Teheran handelt. (...) Es sind solche Geschichten, denen gelingt, woran diesem Abend gelegen ist: nicht nur zu berühren, nicht nur klischierte Storys aufzukochen, sondern dem Leben eines Flüchtlings selbst Gehör zu verschaffen. Wenn man den Flüchtling ernst nimmt, lässt man ihn erst einmal sprechen, und zwängt die Erinnerungen, die Hoffnungen und Ängste nicht sofort in vorgestanzte, mental abgeheftete Muster. Man hört also zu. Deshalb ist man froh, wie die Laienspieler des Jungen DT in den Kammerspielen des Deutschen Theaters diese Szene spielen, sehr froh. Weil sie unaufgeregt und andeutend sein dürfen. (...) Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen diesen Geschichten, außer, dass sich alle Flüchtenden notwendigerweise die Frage stellen (müssen), was Heimat ihnen sein könnte, oder war. Schön deshalb die Inszenierungsidee, die jungen Spieler die gesammelten Fluchtgeschichten auf der Schrägen-Bühne spielen zu lassen, sie also so tun zu lassen, als wären sie die Flüchtlinge selbst. Sowohl kantige Distanz- als auch feine Einfühlungseffekte sind die Folge. (Berliner Zeitung, 11.01.2013) Gut die Hälfte der Zeit thematisieren die Jugendlichen die Schwierigkeit, bewegende Schicksale zu erzählen, ohne in Kitsch zu verfallen. »Warum bellst du wie ein Hund«, sagt einer der Spieler. »Soll das 'Einsamkeit' symbolisieren? Das muss man anders machen«. Dann drapiert er die Spieler um, befiehlt ihnen apathisch vor sich hinzustarren und erzählt selbst von dem Vietnamesen, der seine Kindheit in einem deutschen Flüchtlingsheim verbrachte und nun abgeschoben werden soll, als eine andere Spielerin wiederum mit dem Einwand unterbricht, dies sei ja »Einfühlungsschmalz«. Ein anderes Mal wird ein Flüchtling von selbstverliebt empörten Mitarbeitern eines Flüchtlingsheims vorgeführt: Er solle doch seine Geschichte erzählen. Doch sobald er beginnt, unterbrechen sie ihn, bis er schließlich ausrastet: Jeder wolle seine Geschichte. »Meine Leidensgeschichte ist mein Kapital«. Journalisten böten ihm »fünfzig Euro« dafür, doch wenn er sie erzähle, würde sie nach den Bedürfnissen des Marktes frisiert. Fünfzig Euro für eine Geschichte, die dann aber bitte ein paar Trauma-Details aufweisen muss. Auch Recherchetheatermacher sind Journalisten. (Der Tagesspiegel, 13.01.2013) |