FUTUR II

Nichts ist mehr, wie es scheint, wenn die Straßen und Gebäude vorbeziehen und sich urbane Panoramen neu vor Dir auftun: Eine Speditionshalle auf dem Mond, ein Freibad im Kriegsgebiet - alles ist möglich. [...] Die Fahrt beginnt und vor den Zuschauer-Innen liegt ein Roadtrip an entlegene und teils vergessene Orte des Ruhrgebiets, hinein in fremde Blickwinkel verschiedenster Künstler-Innen. Die unterschiedlichen Orte, vorab ausgesucht durch den Kurator Aljoscha Begrich, werden mit ihrem oftmals zufälligen Geschehen zu einem »Theaterstück ohne Darsteller, zu einem live vertonten Film oder zu einem Ready-Made-Bild für ein Hörspiel«. Das Werk zieht die meiste Anregung und Erfahrung für die Zuschauer-Innen aus der Spannung zwischen Außenwelt und Abstraktion bzw. Erweiterung derselben. Allein durch die Situation der Theaterrezeption sind die Zuschauer-Innen in einer in ihrer Intensität gesteigerten Beobachterposition. Das herkömmliche »Draußen« wird Kontext für jegliche Form von Blick, außer dem alltäglichen. [...] Besonders beeindruckt hier der Single Track von Katia Reshetnikova, die ein impressionistisch anmutendes Werk aus einer Kiesgrube bzw. einer ehemaligen Stahlfabrik geschaffen hat. Durch ihre Soundinstallation hat man das Gefühl, in dieser Grube zu liegen und den Geschichten der Erde zu lauschen. Gleichsam überzeugt die kleine Utopie (oder apokalyptische Fantasie?) von Tobias Rausch zu einem Recklinghäuser Vorgarten-Panorama, in dem er die Rückkehr und ungezähmte Entfaltung der Pflanzen erzählt. Endlich befreit von Heckenschere und Rasenmäher, werden sie die Stadt zurückerobern: »Wach auf, Wildnis!« Ersan Mondtag konfrontiert die Zuschauer-Innen mit der erschreckenden Ähnlichkeit zwischen Freibadgetümmel und den panischen Schreien während eines Bombeneinschlags. Das alles vor der klaffenden Idylle eines leeren Freibads. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - alles eine Frage der Imagination und der göttlichen Hand des Künstlers/der Künstlerin sowie des Blicks der Zuschauer-Innen ... und des Zufalls. War es ein Zufall, dass zwei Möpse über die Trabrennbahn liefen? Man weiß es nicht.
(Silvana Mammone/literaturundfeuilleton, 11.06.2016)

»Heute ist der Tag, an dem der letzte Mensch blinzelt in die Sonne«, schallt es bei »Futur II« (Tobias Rausch) aus dem Lautsprecher und man will es sofort glauben, angesichts der tristen Reihenhaussiedlung hinter der breiten Rasenfläche. Fast alle Jalousien sind herabgelassen, jemand wartet so lange regungslos vor einer der Türen, dass man sich fragt, ob es nicht eine Plastikfigur ist. Für das Projekt »Truck Tracks Ruhr« von Rimini Protokoll fährt ein Lastwagen mit eingebauter Zuschauertribüne und Panoramafenster rund zwei Stunden lang durch Recklinghausen. Unterwegs gibt es sieben Stopps, zu denen Künstler Kurzhörspiele erarbeitet haben. So verwandelt sich ein Ort mit seinem zufälligen Geschehen für fünf Minuten in ein Theaterstück.
(Westfälischer Anzeiger, 01.06.2016)