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ODER BRUCH
Sommer 1997: In Tschechien und Polen schüttet es derart, dass die Oder über die Ufer tritt und das schlimmste Oderhochwasser seit Menschengedenken entsteht, "Jahrtausendflut" nennt es Ministerpräsident Matthias Platzeck. 30.000 Soldaten setzt die Bundeswehr für ihren größten Katastropheneinsatz ein, 114 Menschen sterben, die Bevölkerung spendet 50 Millionen Euro für die Flutopfer. Fast 15 Jahre danach bringt nun Tobias Rausch, Experte für Recherche-Stücke, mit "Oder Bruch" die Geschichten dieser Menschen auf die Bühne. Hundert Interviews haben er und sein Team geführt mit Evakuierten, Helfern, Bürgermeistern, Ministerpräsidenten, Spendenkommissaren und Soldaten. Dokumentation der Zeitgeschichte also zum traurigen Jubiläum? Zum Glück mehr als das. Am Anfang, so erzählen die Schauspieler des Deutschen Theaters und der koproduzierenden Neuen Bühne Senftenberg in den Rollen von Ministern und Kommandeuren, war der Unglaube: Was der Mensch nicht mit eigenen Augen sieht, das existiert nicht. Vor einem Plastikvorhang berichten sie, wie sie bei den ersten Warnungen von den Dorfältesten belächelt wurden. Bis das Wasser kam. Bei Rausch kommt es mit einem Glucksen, dann ein dumpfer Knall - die Plastikplane fällt, und dahinter verläuft ein Deich quer über die Bühne, überzogen mit einer beige-grünen Blümchentapete, wie man sie aus unsanierten DDR-Häusern kennt. Darüber türmt sich eine Monsterwelle - oder rollt sich nur ein Stück Tapete ab? Angst und Verlust Mit einfachen ästhetischen Mitteln arbeitet Rausch und mischt auf der Bühne sinnvoll die Metaphern: Droht der Deichbruch, stemmen die Schauspieler in weißer Helferuniform Löcher aus dem Holzkonstrukt - kommen die Häuser ins Spiel, kann durch einen Handgriff ein Fenster mit Gardine eingelassen werden, schon entsteht ein Wohnzimmer. In 14 kleinen Szenen illustrieren die Schauspieler unterschiedlichste Blickwinkel. Da ist der Teenager, der im überschwemmten Haus nur um sein Visum für die USA bangt. Da ist der Rentner, glücklich, endlich eine nützliche Aufgabe als Deichläufer zu finden. Später wird es bewegender, wenn Barbara Heynen als alte Frau sich bei der Evakuierung durch das Militär an 1945 erinnert fühlt, als sie Hals über Kopf über die gefrorene Oder fliehen musste. 1997 wurden die Menschen im Oderbruch, einem Gebiet, das unterhalb des Flussspiegels liegt, teils mit Gewalt aus ihren Häusern geholt. "Das war keine Evakuierung, das war eine Vertreibung." Tobias Rausch lässt den Abend nicht in Pathos abgleiten: Auf eine nachdenkliche Szene folgt meist eine Art Schildbürgerstreich. So zumindest könnte man es nennen, wenn Marco Matthes, komödiantisch bestens aufgelegt, mit Berliner Schnauze das Organisationschaos beim THW zu erforschen versucht. Manchmal droht die Aufführung in ihre Einzelteile zu zerfallen und sich im Anekdotischen zu verlieren. Letztlich jedoch behält Rausch die großen Themen im Auge, die das Stück über eine Geschichtsstunde hinausheben: Es geht um Heimatverlust, Solidarität, Profitgier und Existenzangst. "Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir", sagt Barbara Schnitzler, "als ob es sich erinnern würde, sucht es immer wieder sein altes Bett". Und das steht, allen Begradigungsversuchen vergangener Jahrhunderte zum Trotz, dort, wo die Menschen des Oderbruchs wohnen und leben. (Barbara Behrendt/die tageszeitung, 09.02.2012) (...) Auf der Bühne steht ein hölzerner Deich, der mit einer altmodischen Blümchentapete beklebt ist, teilweise überdacht von einer Art Baum, so daß sich Drinnen und Draußen vermischen. Aus dem Deich lassen sich Teile herausklappen, ganz so, wie es die Schauspieler brauchen: Sie können etwas abstellen oder sich hinsetzen. So wird der Deich mehr und mehr durchlöchert - ganz so, wie es 1997 der Fall war, als das Oderbruch überschwemmt wurde. Damals fühlten sich die Menschen von Staat und Politik verlassen und halfen sich gegenseitig. Das Team um Tobias Rausch entwickelte das Stück auf der Grundlage von 100 Interviews, die mit den damaligen Bewohnern geführt wurden. Die Methode ist bekannt, dokumentarisches Theater, die Umsetzung genial. Dramaturgisch straff, es gibt immer neue, ungewohnte Bilder, nicht eine Szene, die voraussehbar wäre. Es ist sehr ernst, aber auch witzig und selbstironisch. Die verschiedensten Typen werden vorstellbar gemacht, etwa die Helfer des THW, die einmal den Auftrag erhalten 500 Betten zu besorgen und in ein Dorf bringen, wo sich dann herausstellt, daß nur 30 bestellt waren. Ein Sattelschlepper bleibt im Matsch stecken, »dann könnt ihr hier buddeln helfen«. Ein Bundeswehroffizier soll für 30000 Soldaten die als Helfer eingesetzt werden, »Quartier machen«, doch die Hausmeister in jeder Schule, in der er anfragt, haben »keine Anweisungen bekommen« und weigern sich. Beamte und Politiker tauchen auf, mit Reportern im Schlepptau, sie bekommen zu hören: »Ihr habt uns hier gar nichts zu sagen!« Einmal treiben Särge durchs Dorf, ein Friedhof wurde unterspült. Sie prallen gegen Bäume, die Deckel springen auf und die Leichen werden herausgeschleudert. Das hat etwas von Weltuntergang. Aber keiner flüchtet; alle bleiben da und kämpfen gegen das Wasser. Hinterher ist überall Schlamm. Die Häuser quellen auf, viele müssen abgerissen werden. Und so zersplittert sich das hier anhört, so stringent wird es auf die Bühne gebracht. Eine gelungene Collage. Eine Atmosphäre von Not, Eile und Selbstfindung. Das, was Theater machen soll: die Geschichte der Menschen festhalten, um zu zeigen, daß man etwas tun kann. Gerade wenn man denkt, man sei ohnmächtig. (Anja Röhl/Junge Welt, 18.02.2012) Es ist eine besondere Form von Dokumentartheater, die der Autor und Regisseur Tobias Rausch entwickelt hat. Keine Experten des Alltags stehen auf der Bühne und erzählen von ihrem Leben, sondern Schauspieler versinnlichen historische Ereignisse, indem sie das Material aus umfangreichen Recherchen und Interviews spielerisch vortragen. Nach der ersten Premiere in der Box des Deutschen Theaters Berlin fand die zweite am Freitag im Studio der Neuen Bühne Senftenberg statt. Dabei werden in der Koproduktion nicht etwa die dramatischen Ereignisse während des Oderhochwassers 1997 chronologisch nachgespielt oder nacherzählt, sondern es wird in einer bunten Szenenfolge unsere Erinnerung an und unsere Wahrnehmung von diesem Ereignis befragt. Diese Aufführung ist ein Gespräch vor und mit dem Publikum. Zwischen Plastevorhang und Publikum geklemmt stehen vier Schauspieler zu Beginn direkt vor dem Publikum und spielen munter und komödiantisch, dass sie spielen. Eine unterhaltsam intime Situation, bei der das Senftenberger Publikum sehr direkt reagiert. Die Darsteller sprechen Texte von politischen und organisatorischen Machern, die sich zu Beginn der Flut fragen »Worauf lassen wir uns da jetzt ein?« Die Unsicherheit, das Nichtwissen, das Lernen werden ausgestellt und die Empfindungen, Haltungen und Erinnerungsversuche befragt. Ein Theaterabend als Panorama unterschiedlicher Meinungen und Erfahrungen. Der Vorhang wird beiseite geräumt, und ein mit Blümchentapete beklebtes Dammstück, über das an einer Seite eine Tapetenwoge wellt, wird zum Spielort. Ein so einfaches wie praktisches Bühnenbild von Michael Böhler, - aus dem Damm lassen sich Fenster und Tische, Spiel- und Anspielungsorte herausklappen oder herstellen. »Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir«, erklärt Barbara Schnitzler in einem so grundsätzlichen wie poetischen Text über eine künstlich geschaffene Landschaft, die Flut wirke, »als ob es sich erinnern würde« und immer wieder sein altes Bett suche. Andere Darsteller breiten Heimaterinnerungen aus. Es geht um Gerüche und Geräusche, um die Großeltern auf dem Bauernhof und Busfahrten zur Schule. Und immer ist da der Fluss. Die lockeren sechs Schauspieler, Barbara Heynen, Barbara Schnitzler und Bernd Stempel vom Deutschen Theater sowie Juschka Spitzer, Marco Matthes und Friedrich Rößiger von der Neuen Bühne Senftenberg, gehen ihre Texte mit beiläufiger Leichtigkeit und erstaunlich viel Humor an. Sie sprechen einzeln oder miteinander, fallen sich ins Wort, wechseln die Sprachformen und Sprachhaltungen und, mitten im Satz, auch mal ihre Sprechfigur. Sie sprechen sich mal mit ihrem echten Vornamen an und diskutieren auch einmal über eine Szene mit dem Ergebnis, sie besser zu streichen. Kurzum: Sie machen das Beste daraus, dass sie nicht viel zu spielen, aber sehr viel zu erzählen haben. Zeitweilig imitieren sie Vögel, mit klatschenden Händen auf ihre weißen Anoraks und ruckhaften Kopfbewegungen, - mehr Gestik ist nicht, muss nicht sein. Natürlich werden auch einmal Sandsäcke (in Form von Kissen) aufgeschichtet, und Bernd Stempel läuft als Deichläufer lange hin und her. Vor allem aber wird erzählt. Von der Austauschschülerin für San Francisco, die Angst um ihr Visum hat, von dem Brautpaar, dessen Hochzeit auf dem Hof nicht möglich ist, vom ins Wasser rutschenden Friedhof im polnischen Rybnik mit seinen im Fluss schwimmenden Särgen und Leichenteilen, vom Durcheinander bei den Hilfskräften und dem Organisationschaos beim Technischen Hilfswerk, von einer nicht funktionierenden Sandsackbefüllmaschine und von den Evakuierungen, die Erinnerungen an die Vertreibungen nach dem Kriege hochkommen lassen. Die große Hilfsbereitschaft aus dem Westen wird ebenso erwähnt wie der Streit um die Spenden und Entschädigungen. In einer tollen Szene erzählt jemand, wie er sein Haus wiederherzustellen versucht, es aber schließlich abreißen muss. Fazit: Alle Fotos, alles Private, alles Vergangene ist verloren. Die Aufführung bietet ein Sammelsurium von Berichten und Erinnerungen, die sich zu einem einheitlichen Bild fügen. Dabei geht Tobias Rausch im steten Wechsel von Ernst und Komik, von Anekdotischem und Analytischem große Themen an. Gefragt wird, wer und wie man Augenzeuge ist, wie man sich wirklich richtig zu erinnern vermag, wie unser Verhältnis zur Natur ist, was geblieben ist von damaliger Solidarität. Es geht nicht nur um den Deichbruch, sondern um vielerlei Brüche. In Biografien, in Lebens- und gesellschaftlichen Verhältnissen. Am Schluss steht die skeptische Frage, wohin das Oderbruch sich entwickeln wird, wenn 2015 die einst überfluteten Flächen freigegeben werden. Es gibt berechtigte Angst vor Investmentfonds, die nur den profitablen Mais anbauen wollen, zur Bioenergie-Futtermittelgewinnung, und die die Landschaft und seine Böden gefährden. Es ist ein unterhaltsamer Abend, der das Publikum mit vielen Fragen konfrontiert. Keine spektakuläre, keine mit großen szenisch-darstellerischen Effekten aufwartende Inszenierung ist zu erleben. Aber es wird ein anregendes Angebot zum Dialog und eigenem Nachdenken gemacht. Vor allem aber bringt es ungemein Spaß, den animierten Schauspielern zuzuschauen und zuzuhören. (Hartmut Krug/Lausitzer Rundschau, 20.02.2012) »Der Mensch ist ein expansives Wesen mit struktureller Demenz«, spricht Barbara Schnitzler und blickt dabei vom Bühnenrand in imaginäre Weiten. Versunken, als würde sie träumen, gibt sie den uralten Menschheitswillen wieder, die Natur zu beherrschen. Koste es was es wolle. Dass sie bei ihrem Monolog einen weißen Regenmantel und Gummistiefel trägt, unterscheidet sie rein äußerlich von der klassischen Seherin. Ist dafür aber praktisch, denn es kann jederzeit wieder losgehen. »Es«, das ist der Regen, der im Sommer 1997 einsetzt und nicht wieder aufhören will. Der Regen, der zunächst in Tschechien und Polen weite Landesteile überflutet und am 8. Juli zu einer ersten Hochwasserwarnung in Brandenburg führt. Am Ende der Katastrophe, die Tausende Helfer fast zwei Monate in Atem hält, sind 114 Tote in Polen und Tschechien zu beklagen. Die Schäden in Deutschland belaufen sich auf 330 Millionen Euro. Wie war das damals? Was habt ihr erlebt, was habt ihr verloren? Wie wurde die Hilfe koordiniert, wie habt ihr euch gefühlt, als ihr eure Häuser verlassen musstet? Regisseur Tobias Rausch hat mit »Oder Bruch« ein Stück entwickelt, das sich auf etwa 100 Interviews mit Zeitzeugen stützt. Nicht allein Dokumentation, sondern vor allem Spiel steht im Vordergrund der knapp zweistündigen Aufführung, die das Deutsche Theater Berlin (DT) in Zusammenarbeit mit der Neuen Bühne Senftenberg (NBS) am Dienstag zur Uraufführung brachte. Überraschenderweise ist die von Rausch erzählte Geschichte der Katastrophe oftmals komisch - vor allem wenn es um das fast skurrile Organisationschaos zu Beginn des Hochwassers geht. Barbara Schnitzler, Barbara Heynen, Bernd Stempel (alle DT), Juschka Spitzer, Marco Matthes und Friedrich Rößiger (alle NBS) gelingt es anscheinend mühelos, aus der klamottigen Sandsack-Befüll-Szene zur herzzerreißenden Episode zu springen, in der Vati dem Rest der Familie erzählt, wie er das überflutete Heim vorgefunden hat: »Der Schrank sah aus wie ein versunkener Tanker«. Das beeindruckend einfache wie kluge Bühnenbild (Michael Böhler) ermöglicht den Schauspielern, die Schräge als Deich oder Dach zu nutzen, teils abblätternde Blümchentapete genügt, um klar zu machen: Manche haben hier alles verloren. Ob die Rolle der Hilfskräfte, der Medien, der alberne Besuch des Bundeskanzlers am Krisenort, Hahnenkämpfe verantwortlicher Politiker, das Unglück der Evakuierten, Vertreibung, Verteilungskämpfe um die Spenden und Hilfsbereitschaft von Ost und West - alle Aspekte der Katastrophe werden beleuchtet und besprochen. Auch: Wo ziehen wir die Grenze zwischen Rücksicht auf die Natur und dem Willen zur Expansion? (Claudia Seiring/Märkische Oderzeitung, 08.02.2012) Das Solidaritätsgefühl, das mit der großen Spendenbereitschaft nach dem Oder-Hochwasser 1997 einherging, brachte Ost und West emotional enger zusammen als alle Städtepartnerschaften. Eine Legende. Auch daran kratzt »Oder Bruch« in der Box des Deutschen Theaters. Denn neben den Geschichten von Hilfe und Gemeinschaft gibt es eben auch jene wie die der zwei Nachbarfamilien, die sich über die Verteilung der Hilfsgelder in die Haare kriegen. Vom Pfarrer, der nicht weiß, welche Einzelspende er wem zuteilen soll. Von dem gebrauchten Schrott, der als gute Gabe im ohnehin schon vom Flutmüll überquellenden Oderbruch landet. Es ist eine der Qualitäten dieses Projekts von Tobias Rausch, das er immer wieder Einzelschicksale gegen das große Ganze stellt, absurd komische Anekdoten gegen tragische. Mit derartigen Projekten hat er Erfahrung: Als Kopf der Gruppe Lunatiks Produktion realisiert er in ganz Deutschland regional abgestimmte Dokutheaterabende. Für "Oder Bruch", einer Koproduktion mit der Neuen Bühne Senftenberg, hat ein Rechercheteam um Michael Müller etwa 100 Menschen in Deutschland und Polen interviewt. Herausgekommen ist ein szenisch braves, aber inhaltlich spannendes Panorama: Wenn die etwas altklugen, die Erzählsituation reflektierenden Kommentare wie »Was ist ein Augenzeuge?« oder »Was ist eine sinnvolle Geschichte?« verstummen, nimmt die Geschichte an Fahrt auf. Auf die kleine Box-Bühne hat Michael Böhler einen mit Blümchentapete beklebten Sperrholzdamm gebaut, über den eine stilisierte Welle ragt und der sich mit vielen ausklappbaren Elementen als ziemlich multifunktional erweist. Hier laufen die sechs Schauspieler den Damm ab, werfen sich Sandsäcke zu. Vor allem Barbara Schnitzler rutscht so lässig in ihre Brandenburger Rollen, dass man die Oderbruch-Bewohner leibhaftig vor sich zu sehen meint, um dann wieder feine Distanzen und Brüche zu schaffen, in denen man sich selbst wiedererkennt. (Georg Kasch/Berliner Morgenpost, 11.02.2012) Unser Alltag soll kein Museum sein. Was vergangen ist, wird vergessen. Sonst könnten wir, mit der Last des Gestern beladen, kaum mehr eine Hand rühren. Aber trotzdem ist das Vergangene nie ganz fort, etwas von ihm lebt weiter - in lauter kleinen Geschichten, die uns etwas darüber erzählen, was das ist: Geschichte. Ein Konglomerat von Erinnerungsbildern, festgehaltenen Fakten und Zahlen und jenem wachsenden Loch im Gedächtnis, erst bei jedem Einzelnen, dann kollektiv. Ja, wir leben mehr und mehr in einer geschichtsvergessenen Zeit. Wir fragen immer zuerst: Was gibt es Neues? - Nie: Was gibt es Altes, das uns trotzdem nicht loslässt? Darüber hat Tobias Rausch in seinem Projekt »Oder Bruch« nachgedacht - das Paradox von Vergessen und Erinnern in einer Inszenierung, die ihre Intensität aus über tausend Seiten Gesprächsprotokollen bezieht. Spiel mir Hochwasser! Was zusammenkommt, ist ein mythischer Fluss, steigendes Wasser als Höhepunkt nicht nur der Biografie eines Einzelnen, sondern ganzer Regionen. In der ersten Reihe sitzen unter den Zuschauern einige würdige ältere Männer, zweifellos angereiste Honoratioren. Sie haben die etwas behäbige Aura von Provinz-Würdenträgern, die sich hier in die Rolle von Richtern über das Bild ihres Hochwassers versetzt sehen, gespiegelt in einer Szenerie aus Heldentum und Versagen, aus Pathos und Ironie. Zuletzt immer die Kollision von Natur mit Verwaltungsapparat. Rausch weiß daraus Funken zu schlagen, auch witzige. Dann kommen die Sandsäcke und stillen Gebete von Tausenden von Helfern: Möge die Katastrophe diesmal noch ausbleiben. Ja, der Dammbruch und mit ihm der Ausnahmezustand, sie treiben seltsame Blüten. Rausch wechselt zwischen Außen- und Innenperspektive, fragt, was das denn überhaupt sei, ein Augenzeuge. Kann man ihnen trauen, den Augen? Für ihn ist das die Frage: »Welche Geschichte setzt sich durch?« Welche Erzählvariante? Das Oderbruch wurde uns von Friedrich dem Großen als Neulandprojekt vererbt, das Bett der Oder liegt acht Meter über dem Umland, nur Dämme verhindern die Überflutung, die zerstörerische Rückkehr des Wassers in das alte Flussbett. »Wir leben in gefährdetem Gebiet«, sagt einer der sechs Schauspieler (Marco Matthes, Friedrich Rößiger und Juschka Spitzer aus Senftenberg; Barbara Heynen, Barbara Schnitzler und Bernd Stempel vom DT). Jeder von ihnen ist mehrfacher Geschichtenträger. Wir erleben: Fragmente von temporärer Schicksalsgröße. Die einen standen das erste und letzte Mal in ihrem Leben im Rampenlicht, die anderen verloren alles. Und vieles kommt im Nachhinein als Anekdote dahergetröpfelt; was tragisch schien, ist doch nur absurd gewesen. So etwa, wenn sich nach einer der Hilfslieferungen die Bewohner eines Dorfes gegenseitig anschauen - und alle tragen die gleichen Schlafanzüge, mit Eisbären drauf. Ein Deich aus Pappe, weiße Wetterkleidung, die mal angezogen, mal abgelegt wird - dies wirkt (wie schon oft bei Rausch) wie ein multifunktionaler Spielplatz. Am Anfang stehen die sechs Erzähler wie Vögel hintereinander und klopfen mit den Händen auf ihre Jacken, rucken mit den Köpfen. Gelegentlich explodiert etwas, der Deich ist irgendwo gebrochen - die Erzähler fallen um, die Geschichte zerspringt. Manchmal allerdings wünscht man sich, hier würde einfach nur der Text pur vorgetragen und gar nicht erst versucht, ihn in Spielszenen zu bringen. Die Inszenierung offenbart an einigen Stellen die Neigung, mittels Spiel den Text zu unterspülen. Dennoch ein Abend, der den disparaten Charme des Notstands klug auslotet - und das ist ja schon viel derzeit am DT. (Gunnar Decker/Theater der Zeit, 03/12) Im Jahr 1997 suchte ein Jahrhunderthochwasser die Oderregion heim. Menschen in ganz Deutschland wurden dadurch in Bewegung gesetzt. Wie erinnern sich die Menschen nach 15 Jahren an dieses Ereignis? Und wie denken sie heute? Diese Fragen bewegten der Autor und Regisseur Tobias Rausch und er konzipierte das Projekt »Oder Bruch«, das jetzt als Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin und der NEUEN BÜHNE Senftenberg auf die Bühne kam. Gut hundert Interviews haben Rausch und sein Rechercheteam in Polen und geführt. Aus diesem Material hat Tobias Rausch vielschichtige Erinnerungssequenzen herausdestilliert und ein szenisches Kaleidoskop geschaffen. Heiteres und Tragisches stehen eng beieinander. Natürlich sind Erinnerungen immer subjektiv. Aber der Regisseur und die Spieler bewerten diese Aussagen glücklicherweise nicht. Die Berliner Schauspieler Barbara Heynen, Barbara Schnitzler, Bernd Stempel und die Senftenberger Schauspieler Juschka Spitzer, Friedrich Rößiger und Marco Matthes stellen ganz einfache Menschen dar, Menschen, die ihre Geschichten erzählen. Es scheint so, dass sie sich gerade erinnern und die Geschichten von damals spontan nachspielen. Sie erzählen von ihrem Denken und Handeln, stellen ganz konkrete Figuren, wie Deichläufer, Bundeswehrsoldaten, Menschen auf der Flucht, Bürgermeister, Minister und Helfer aus Bayern, dar. Sie arrangieren Szenen, um Nachbarschaftskonflikte offenzulegen. Berichtet wird von der Angst, der gewaltsamen Evakuierung, dem Kampf ums Überleben, der Solidarität der Menschen und vom Neid und der Missgunst nach der Flut. Durch ihre einfache menschliche Spielweise erreichen die Darsteller die Herzen der Zuschauer und machen betroffen. Jeder behält Bilder von der Flut und ihrer Folgen im Gedächtnis und wird nachdenklich. Barbara Schnitzler sagt im Stück: »Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir, als ob es sich erinnern würde, sucht es immer wieder sein altes Bett.« Das Wasser wird also wiederkommen. Und nicht nur im Oderbruch, auch die Schwarze Elster sucht ihr altes Bett. (Ulrich Münzberg/Niederlausitz aktuell, 19.02.2012) Tobias Rausch hat all diese Szenen nicht chronologisch, sondern geschickt assoziativ aneinander gebaut - das fünfköpfige Ensemble übernimmt - ganz in weiß - in Gummistiefeln - mit viel Witz mal die eine, mal die andere Rolle. Bühnenbildner Michael Böhler hat einen originellen - tapezierten (!)- Deich auf die Bühne der Box im Deutschen Theater gestellt. Der ist multifunktional: Es öffnet sich darin auch schon mal eine Badewannen-Öffnung. (...) Schönes Stück über uns Menschen und unsere Scheuklappen. (Anke Schäfer/RBB inforadio, 08.02.2012) Tobias Rausch ist ein Experte für Recherche-Stücke: In »Alles offen« befragte er Zeitzeugen der Wende, für »einsatz spuren« sprach er mit Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren. Sein jüngstes Projekt »Oder Bruch« hat nun das schlimmste Oderhochwasser seit Menschengedenken zum Thema. 30.000 Soldaten setzte die Bundeswehr 1997 für ihren größten Katastropheneinsatz ein, 114 Menschen starben damals, die Bevölkerung spendete gigantische 50 Millionen Euro für die Flutopfer. Hundert Interviews haben Rausch und sein Team nun 15 Jahre später geführt, mit Evakuierten, Helfern, Ministerpräsidenten, Spendenkommissaren und Soldaten. Dokumentation der Zeitgeschichte also zum traurigen Jubiläum? Zum Glück mehr als das. Quer über die Bühne verläuft ein Deich, überzogen mit einer beige-grünen Blümchentapete, wie man sie aus unsanierten DDR-Häusern kennt. Darüber türmt sich eine Monsterwelle - oder rollt sich nur ein Stück Tapete ab? Mit einfachen ästhetischen Mitteln arbeitet Rausch und mischt auf der Bühne sinnvoll die Metaphern: Droht der Deichbruch, stemmen die Schauspieler des Deutschen Theaters und der koproduzierenden Neuen Bühne Senftenberg in weißer Helferuniform Löcher aus dem Holzkonstrukt - kommen die Häuser ins Spiel, kann durch einen Handgriff ein Fenster mit Gardine eingelassen werden, schon entsteht ein Wohnzimmer. In 14 Sequenzen illustrieren die Schauspieler unterschiedlichste Blickwinkel. Da ist der Teenager, der im überschwemmten Haus nur um sein Visum für die USA bangt. Da ist der Rentner, glücklich, endlich eine Aufgabe als Deichläufer zu finden. Später wird es bewegender, wenn Barbara Heynen als alte Frau sich bei der Evakuierung durch das Militär an 1945 erinnert fühlt, als sie über die Oder fliehen musste. 1997 wurden die Menschen im Oderbruch, einem Gebiet, das unterhalb des Flussspiegels liegt, teils mit Gewalt aus ihren Häusern geholt - »das war keine Evakuierung, das war eine Vertreibung.« Rausch lässt den Abend nicht in Pathos abgleiten: Auf eine nachdenkliche Szene folgt meist eine Art Schildbürgerstreich. So zumindest könnte man es nennen, wenn Marco Matthes, komödiantisch bestens aufgelegt, mit Berliner Schnauze das Organisationschaos beim THW zu erforschen versucht. Und Bernd Stempel erzählt als Hausverlierer mit erfrischendem Galgenhumor, wie er im Wohnzimmer den Goldfisch aus Nachbars Teich vorbeischwimmen sah. Manchmal droht die Aufführung sich im Anekdotischen zu verlieren. Letztlich jedoch behält Rausch die großen Themen im Auge, die das Stück über eine Geschichtsstunde hinausheben: Es geht um Heimatverlust, Solidarität, Profitgier und Existenzangst. Um den Kampf gegen die Natur, um menschliche Ohnmacht. »Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir«, sagt Barbara Schnitzler, »als ob es sich erinnern würde, sucht es immer wieder sein altes Bett.« Und das steht, allen Begradigungsversuchen vergangener Jahrhunderte zum Trotz, dort, wo die Menschen des Oderbruchs wohnen und leben. Das Wasser wird wieder kommen. (Barbara Behrendt/Die Deutsche Bühne, 02/2012) Spiel mir Hochwasser! Was in »Oder Bruch« zusammenfließt, ist ein mythischer Fluss, steigendes Wasser als Höhepunkt nicht nur der Biografie eines Einzelnen, sondern ganzer Regionen. Darüber hat Tobias Rausch in »Oder Bruch« nachgedacht - das Paradox von Vergessen und Erinnern in einer Inszenierung, die ihre Intensität aus über tausend Seiten Gesprächsprotokoll bezieht. Das »Oder Bruch«-Projekt nimmt eine Zusammenarbeit des Deutschen Theaters mit der Neuen Bühne Senftenberg wieder auf, die ihre Anfänge bereits vor Jahrzehnten hatte. Über das Oder-Hochwasser von 1997 als Gegenstand einer Theaterrecherche, sagte mir der Regisseur: »Das Hochwasser ist ja inzwischen ein Mythos. Er stiftet Identität in einer Region, zumindest auf deutscher Seite, aber auch auf der polnischen, nur in einer ganz anderen Ausformung. Das ist die erste gesamtdeutsche Katastrophe, wo Ost und West gemeinsam auf den Deichen standen, und anschließend kam eine wahre Spendenflut. Dieser Mythos ist allerdings vielfach gebrochen, weil es nach der Katastrophe dann die Auseinandersetzung um die Spendengelder gab. Da sind böse Feindschaften entstanden: Warum kriegt der Nachbar mehr als ich?« Der Senftenberger Intendant Sewan Latchinian ergänzte, die Hochwassermetapher auf sein Theater beziehend: »Das Wasser ist in Senftenberg allgegenwärtig. Auch unter dem Theater in Senftenberg steigt das Grundwasser an, seit die Tagebaue nicht mehr arbeiten. Nun also kehrt das Wasser dorthin zurück, wo es ursprünglich mal war und wo seit sechzig Jahren das Theater steht. Das ist natürlich und hat etwas von einer Insellösung. Insofern stehen wir mit fast nassen Füßen direkt im Thema drin.« Was also ist das: Geschichte? Ein Konglomerat von Erinnerungsbildern, festgehaltenen Fakten und Zahlen und jenem wachsenden Loch im Gedächtnis, erst bei jedem einzelnen, dann kollektiv. Ja, wir leben mehr und mehr in einer geschichtsvergessenen Zeit. Wir fragen immer zuerst, was gibt es Neues - nie: Was gibt es Altes, das uns trotzdem nicht loslässt? Gewiss, unser Alltag soll kein Museum sein. Was vergangen ist, wird vergessen. Sonst könnten wir, mit der Last des Gestern beladen, kaum mehr eine Hand rühren. Aber trotzdem ist das Vergangene nie ganz fort. Eine Szenerie aus Heldentum und Versagen, von Pathos und Ironie. Der Ausnahmezustand: Zuletzt immer die Kollision von Natur mit Verwaltungsapparat. Rausch weiß daraus Funken zu schlagen, auch witzige. Dann kommen die Sandsäcke und stillen Gebete von Tausenden von Helfern: Möge die Katastrophe diesmal noch ausbleiben. Ja, der Dammbruch treibt seltsame Blüten. Rausch wechselt zwischen Außen- und Innenperspektive, fragt, was das denn überhaupt sei, ein Augenzeuge. Kann man ihnen trauen, den Augen? Für ihn ist das die Frage: »Welche Geschichte setzt sich durch?«, welche Erzählvariante. Das Oderbruch wurde uns von Friedrich dem Großen als Neulandprojekt vererbt, das Bett der Oder liegt acht Meter über dem Umland, nur Dämme verhindern die Überflutung, die zerstörerische Rückkehr des Wassers in das alte Flussbett. »Wir leben auf gefährlichem Gebiet«, sagt einer der sechs Schauspieler (drei aus Senftenberg, drei vom DT). Jeder von ihnen ist mehrfacher Geschichtenträger. Wir erleben: Fragmente von temporärer Schicksalsgröße. Die einen standen das erste und letzten Mal in ihrem Leben im Rampenlicht, die anderen verloren alles. Und vieles kommt im Nachhinein als Anekdote daher getröpfelt; was tragisch schien, ist doch nur absurd gewesen. So etwa, wenn sich nach einer der Hilfslieferungen die Bewohner eines Dorfes gegenseitig anschauen - und alle tragen die gleichen Schlafanzüge, mit Eisbären drauf. Ein Deich aus Pappe, weiße Wetterkleidung, die mal angezogen, mal abgelegt wird - dies wirkt wie ein multifunktionaler Spielplatz. Am Anfang stehen die sechs Erzähler wie Vögel hintereinander und klopfen mit den Händen auf ihre Jacken, rucken mit den Köpfen. Gelegentlich explodiert etwas, der Deich ist irgendwo gebrochen - die Erzähler fallen um, die Geschichte zerspringt. Manchmal allerdings wünschte ich, hier würde einfach nur der Text pur vorgetragen und gar nicht erst versucht, ihn in Spielszenen zu bringen. So aber liegt hier immer bloße Bebilderung im Streit mit dem disparaten Charme des Notstands. Ausgang offen. Warum eigentlich gehört der »Oder Bruch«-Stoff auch ans DT? Sewan Latchinian über sein Berlin-Gefühl, einer permanenten Explosion nicht unähnlich: »Eine Stadt, die immer nur wird, das muss man erst einmal künstlerisch verarbeiten. Da finde ich es wichtig, dass das Provisorium bei Oder Bruch bis in den Text hinein reicht. Diese Erfahrung kann Staatstheatern nur gut tun.« Tatsächlich scheint »Oder Bruch« eine vielversprechende Begegnung zwischen Metropole und Provinz zu sein - und manchmal weiß man als Zuschauer gar nicht mehr, wo das eine anfängt und das andere aufhört. (Neues Deutschland, 28.03.2012) |