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TORNADO
"Wir haben eine Krise der Imagination", stellt in der Produktion TORNADO am Theaterdiscounter die Performerin Bettina Grahs fest. Sie hat die Rolle einer kälteerprobten Wissenschaftlerin angenommen, die in Ostsibirien die Entstehung des Packeises erforscht, das über die Transpolardrift auch ins europäische Nordmeer wandert - und maßgeblich unser Klima bestimmt. Noch. Denn die Eisfläche in Ostsibirien hat in den vergangenen 25 Jahren um 40 Prozent abgenommen. Aber das sind ja nur Zahlen, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Die Schmelze, stellt die Wissenschaftlerin fest, "geht viel schneller vonstatten als wir dachten". Sollte sie das überhaupt öffentlich sagen? "Bloß nicht in die Kassandra-Falle tappen ..." Das TORNADO-Projekt des Regisseurs Tobias Rausch bringt ein Thema ins Theater, dem es an dramatischem Potenzial nicht mangelt. Bislang haben allerdings nur wenige Bühnen die Klimakatastrophe für sich entdeckt. Natürlich gibt es im Kinder- und Jugendgenre einige Versuche, das erodierende Morgen irgendwie zu fassen zu bekommen. Was aber nicht selten in öder Anbiederei an "Fridays for Future" endet. Rausch dagegen findet einen starken Zugriff. Im Theaterdiscounter verdichtet der Regisseur die Frage nach dem aufhaltsamen Untergang des Planeten auf einen Parcours durch drei Räume. Neben der beschriebenen Wissenschaftlerin begegnet einem dabei auch ein Sturmjäger (Florian Hertweck), der in Deutschland Unwetterfronten hinterher reist. Wie viele Tornados gibt es bei uns pro Jahr? Null? Fünf? Richtig, fünfzig. Tendenz eher steigend, denn die Temperatur-Extreme wachsen auch hierzulande. "Braucht es noch eine Demo, noch eine Kraftwerksbesetzung?", fragt der Mann in die Runde. Wenn man's nur wüsste. Im dritten Raum schließlich - dessen Boden vollgestellt ist mit Ventilatoren diverser Größe und Bauart - wartet eine Audio- und Video- Installation, die ebenso wie die vorangegangenen Teile auf Interviews und Recherchen basiert. Zwischen Geschichten von einem Schweizer Bergsturz und eskalierenden Protesten gegen den Tagebau meldet sich da auch ein "westdeutsches Durchschnittskind" zu Wort, das für sich reklamiert, keine Kinder zu haben, keinen SUV zu fahren, nie das Fenster auf Kipp oder den Fernseher auf Standby zu lassen - und trotzdem hieße es auf einmal: "Du bist die Umweltsau!" Wer ist Teil des Problems - und was ist die Lösung? Gigantische Weltraumspiegel, CO2-bindende Algen im Meer, oder vielleicht doch die Roboter-Biene? Tobias Rauschs Inszenierung kann und will darauf keine Antwort geben. Aber sie entlässt die Zuschauer mit einem Bild, das man im Theater so noch nicht gesehen hat. Mit einem leibhaftigen Tornado. (Patrick Wildermann/Tagesspiegel, 14.09.2020) Man verlässt das Theater leicht beklommen und wütend zugleich. Was wissenschaftliche Studien und auch die x-te Talkshow zum Thema nicht hervorrufen kann, das schafft das Theater. Der Klimawandel wird von der theoretisch-abstrakten Bedrohung zu einer sinnlich-wahrnehmbaren Gefahr, die man aufgrund der assoziativen Struktur des Stückes nicht sofort begreifen kann, die im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln bleibt. (Matthias Tang/iass-potsdam.de, 09/2020) "Ich bin 36 Grad kalt". Der Wissenschaftler (Florian Hertweck) ist in Ostsibirien unterwegs. Er untersucht die Auswirkungen der Klimaerwärmung im Packeis. Mitten in einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde, in der es nur um das nackte Überleben geht, sammelt er Daten für die Politik. Doch eigentlich weiß er: Er kann so viele Vorträge halten, so viele Diagramme erstellen und so viele Studien veröffentlichen, er muss die Menschen berühren, um eine Veränderung zu bewirken. Wie gelingt das, wenn er als Wissenschaftler immer auf 36 Grad minus herab gekühlt ist. Vielleicht mit den Mitteln des Theaters? Das fragt sich nicht nur der Wissenschaftler sondern auch Regisseur Tobias Rausch bei seinem Arbeit "Tornado" am Theaterdiscounter. [...] Was könnte die Lösung angesichts der drohenden Zukunftsszenarien sein? Das kann dieser Abend auch nicht verraten. Die Abwesenheit von lebenden Menschen im letzten Raum konfrontiert mit einer Leere, die auf die eigenen Gedanken zurückwirft. So verlässt man das Theater mit drängenden Fragen: Wo liegt meine eigene Verantwortung? Was kann ich tun? (Birgit Schmalmack/hamburgtheater.de, 15.09.2020) |